How to find meaning in dead time 

Im Rahmen von Archival Assembly #1 – dem (vorläufigen) Ende des fünfjährigen Projekts und der weitreichenden internationalen Zusammenarbeit "Archive außer sich" – wirft diese Ausstellung der unabhängigen Verlags- und Kuratorinnenplattform Kayfa ta (Maha Maamoun und Ala Younis) einen genaueren Blick auf experimentelle Sprachen der Kulturproduktion und -verbreitung sowie auf die alternativen Geschichten und Möglichkeiten, die im Archiv stecken. How to find meaning in dead time (Wie man in toter Zeit einen Sinn findet) reflektiert einige der Schlüsselthemen rund um das Archiv – seine Handlungsfähigkeit, seine trägen und aktiven Formen des Widerstands sowie sein transformatives Potenzial, persönliche und kollektive Geschichten jenseits der vorherrschenden Konventionen von Einschränkung und Auslöschung zu erweitern.

Was ist tote Zeit? In der Physik ist Totzeit ein technischer Begriff, der sich auf die Zeit bezieht, die aufgrund einer mechanischen Verzögerung des Aufnahmegeräts vergeht, ohne von unseren Detektoren aufgezeichnet zu werden. In diesem Sinne ist tote Zeit nicht aufgezeichnete Zeit. In der Geschichte könnte sich tote Zeit auf jene Zeit beziehen, die aufgrund einer vorsätzlichen Auslöschung aus den Überlieferungen verschwunden ist, weil sie innerhalb der gewollten Kanonisierung der Geschichte für unwürdig oder unpassend erklärt wurde. Sie kann sich auch auf eine Zeit beziehen, die nicht berücksichtigt wird, weil die materiellen Aufzeichnungen, die ihre Existenz belegen würden, durch Verlust oder Verfall nicht mehr vorhanden sind oder im Verborgenen liegen. Ferner könnten die Aufzeichnungen jener Zeit in einer Form existieren, die für unsere Geräte nicht lesbar ist, in einer untergeordneten Sprache, geäußert von nicht anerkannten Subjekten oder Subjektivitäten, und eingefasst in subsidiäre Medien. Alternativ dazu kann tote Zeit auch die Zeit sein, die sich absichtlich unseres Zugriffs entzieht, durch ein „sich tot stellen“ in Erwartung einer passenderen Zeit, in der sie sich wieder in den Geltungsbereich des Lebens einfügt. In allen hier genannten Fällen ist Zeit nicht in sich selbst tot, sie ist nur von uns abgeschottet aufgrund unseres Unvermögens, sich mit ihr zu befassen.

1. If you sit in your room for hours on end with nothing to do, place an empty cassette tape in the player and press the record button.

Haytham El-Wardany, How to Disappear [1]

Die Ausstellung enthält Zeitfragmente, die inaktiv sind, die sich den Aufzeichnungen entzogen haben, oder die im Begriff sind, von den Medien, die sie vorübergehend beheimatet haben, wiederaufzuerstehen. Zu solchen Medien zählen 16-mm-Filme, 3-D-gedruckte Kassetten, Material aus Überwachungskameras, koloniale Fotoarchive, menschliche Körper, der Schrank eines Juweliers, Streichholzschachteln, die Lagerräume des Louvre Museums, VHS-Kassetten, ein persischer Teppich und viele andere.

Wir besuchen und benutzen keine abgeschlossene Materialsammlung: Vielmehr ist dieses Archiv der Zeitlichkeiten auch ein immaterielles ausgedehntes Wesen, das sich entschieden hat, uns zu besuchen und zu benutzen, unsere Körper zu animieren und möglicherweise die Narrative des Selbst, des Ortes und der Zeit zu erweitern.

7. Listen one more time. Note that what you are hearing is the sound of long, empty hours, and that the new-found meaning that you have gradually grown accustomed to is that very emptiness you had been experiencing, now abstracted from your feelings, and thoughts, and presence. You will discover that emptiness is not in itself an absence of all meaning, but rather your inability to understand new meaning.

Haytham El-Wardany, How to Disappear [2]


ZUSAMMENARBEIT 
Diese Ausstellung entstand im Rahmen von Archival Assembly #1, in Resonanz mit den ausführlichen Gesprächen mit den verschiedenen individuellen und institutionellen Partner*innen, die die Richtung des Festivalprogramms bestimmten. Kayfa ta (Maha Maamoun und Ala Younis) ist eine unabhängige Publikations- und Kuratorinnenplattform, die sich mit alternativen Praktiken des Publizieren, und dessen flüchtiger Geschichte und den Modi des Überlebens, der Verbreitung und des Verbergens beschäftigt. 2019 lud Stefanie Schulte Strathaus (Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. ) Kayfa ta ein, die Ausstellung der Archival Assembly zu kuratieren, ausgehend von den Gemeinsamkeiten in den kuratorischen Schwerpunkten von Arsenal und Kayfa ta, zu denen das Interesse an experimentellen Sprachen der Kulturproduktion und -verbreitung sowie an den alternativen Geschichten und Möglichkeiten des Archivs gehört. Die Ausstellung reflektiert einige der Schlüsselthemen rund um das Archiv – seine Handlungsfähigkeit, seine trägen und aktiven Formen des Widerstands sowie sein transformatives Potenzial zur Erweiterung unserer persönlichen und kollektiven Geschichte jenseits der vorherrschenden Konventionen von Einschränkung und Auslöschung.

Archival Assembly #1: Archive außer sich
Archival Assembly #1 bildet den (vorläufigen) Abschluss des fünfjährigen Projekts “Archive außer sich”. Während des Festivals versammeln sich Filmarchive und filmarchivarische Projekte zum Austausch mit dem Publikum. Einige von ihnen hält die Idee des nationalen Erbes (oder das Genre, oder die historische Zeit) zusammen, die anderen der Widerstand dagegen. Einige sind als staatliche Archive gut zugänglich oder der Welt verschlossen, andere überhaupt nie in die Filmgeschichtsschreibung vorgedrungen. Archive und Gegenarchive: Es scheint so zu sein, als könnten die einen nicht ohne die anderen. Wenn sich Filmarchive jedoch nicht als geschlossene Einheiten, sondern als Handlungsorte einer transnationalen Praxis begreifen und sie neue Allianzen bilden, könnte sich vielleicht die alte Idee des sogenannten „Weltkinos“ aus seinem Machtgefüge lösen und beides, die Welt und das Kino, neu denken.

Dazu besteht durchaus Hoffnung, denn die Archive sind außer sich. Das bedeutet: Sie sind zu Subjekten geworden, die sich nicht mehr damit zufriedengeben, dass man nur in sie hineinsieht. Sie wollen aus sich heraus. Sie wollen nicht für eine unbekannte Nachwelt nur gepflegt und gesichert werden, sie wollen diese Nachwelt selbst gestalten. Sie wollen ihr Innerstes nach außen kehren. Ihre Digitalisierung ist aufregend, sie verleiht ihnen eine gewisse Leichtigkeit und ermöglicht neue Wege: Vorbei am alten Archivar, der einst darüber entschieden hat, wer hinein und wer hinausdarf, hin zu einer Vielzahl neuer Archivar*innen. Hinaus aus der Institution und hinein in jene Lebenswirklichkeit, die sie einmal hervorbrachte. Sollten sie jemals zurückkehren, dann in ein verändertes Kino, in eines, das gerade dabei ist, sich zu erfinden. Nicht ohne ihr Zutun.

BildSanaz Sohrabi, One Image, Two Acts, 45 min, 2017–2020

1

The title of the exhibition and this excerpt are from “How to find meaning in dead time,” one of the exercises in the manual by Haytham El-Wardany, How to Disappear (Cairo: Kayfa ta, 2013), 23. // Der Titel der Ausstellung und dieses Zitat entstammen „How to find meaning in dead time“, einer der Übungen in Haytham El-Wardanys Handbuch  (2013): How to disappear, (Kairo: Kayfa ta), 23.

2

Ibid, 24. // Ebend. 24