Ultrasanity.
Zu Wahnsinn, Hygiene, Antipsychiatrie und Widerstand
Ultrasanity Kapitel 4: Ausstellungen in Berlin
Eröffnung ifa Gallery 13.12.2019 19:00
Ausstellung 14.12.2019–09.02.2020 Tues – Sun 14:00–18:00
MIT Leo Asemota, Virginia Chihota, Jaswant Guzder, Tracey Rose und Eva Kotatkova
Eröffnung at SAVVY Contemporary 14.12.2019 19:00
Ausstellung 15.12.2019–02.02.2020 (verlängert) Thurs–Sun 14:00–19:00
MIT John Akomfrah, Ulf Aminde, Leo Asemota, Yassine Balbzioui, M’Barek Bouhchichi, Virginia Chihota, Larisa Crunțeanu, Alessandra Eramo, Pélagie Gbaguidi, Frederick W. Hickling, Lukas Hofmann, Immy Mali, Teresa Margolles, Nathalie Mazeas, Lavar Munroe, Adjani Okpu-Egbe, Beatriz Santiago Muñoz, and Javier Tellez
INVOCATIONS 25.01.–26.01.2020
MIT Debbie Ann Chambers, Alessandra Eramo, Dora Garcia, Jaswant Guzder, Sophie Hoyle, Frederick W. Hickling, Lukas Hofmann, Taoufiq Izzeddiou, Dorothée Munyaneza, Urban Feral, Jota Mombaça, Elisabeth Tambwe and more
Führungen durch die Ausstellung
10.01.2019 17:00 auf Englisch mit Kelly Krugman
23.01.2019 17:00 auf Englisch mit Kelly Krugman
ULTRASANITY ist ein Projekt in vier Kapiteln innerhalb von THE INVENTION OF SCIENCE, einem Langzeit-Forschungsprojekt bei SAVVYContemporary, das die Verflechtungen der Wissenschaften mit der kolonialen Unternehmung und dem kapitalistischen Projekt untersucht. ULTRASANITY hinterfragt westliche wissenschaftliche Methoden und Perspektiven der psychischen Gesundheit sowie medizinische (Fehl-)Annahmen von Psychopathologien, indem es sie in den Kontext von Kolonialität, Rassifizierung, Objektifizierung und patriarchalischer Unterdrückung stellt. Eng verwoben mit unseren bisherigen Überlegungen zu Landkonflikten und Toxizität, konfrontiert uns dieses Projekt erneut mit Traumata und Ängsten vor Vertreibung und Vergiftung, diesmal mit der Möglichkeit, den Begriff des Wahnsinns jenseits des westlichen Verständnisses zu reflektieren und dabei auch als Raum zu begreifen, der Widerstand, Resilienz und Befreiung ermöglichen kann.
Im Laufe eines Jahres haben wir gemeinsam Künstler*innen, Musiker*innen, Patient*innen, Heilenden, mit Kliniker*innen, Kognitionswissenschaftler*innen, Akademiker*innen und Praktiker*innen – und in Zusammenarbeit mit der ifa Galerie Berlin, der Association of Neuroesthetics (AoN), dem Gnaoua Festival (Marokko) und Picha Art Lubumbashi (DRC) – Fragen aufgeworfen, die verschiedene Grammatiken von Gewalt in Frage stellten, die in derzeit praktizierten universellen Therapiemodellen und der Pharmakologisierung der Pflege eingeschrieben sind. Es geht hierbi nicht um eine Romantik des Wahnsinns, sondern darum, das heuristische und generative Potenzial bestimmter Formen des Deliriums anzugehen ebenso wie dem gemeinschaftlichen Engagement und den spirituellen, systemischen, generationenübergreifenden Geschichten bei der Formulierung von Heilmethoden grundlegende Bedeutung zu verleihen.
Mit dieser Ausstellung und ihrem performativen und diskursiven Programm zwischen ifa Galerie und SAVVYContemporary navigieren wir durch die Möglichkeiten von ULTRASANITY und bewegen uns über die Dichotomie von Wahnsinn als das Gegenteil von Vernunft hinaus, um diesen begrenzten Raum zu bewohnen, der jenseits der Norm liegt, ohne den Prozess der Normalisierung und Kontrolle.
...denn es ist nicht der Mensch, sondern die Welt, die anomal geworden ist....
Wahnsinn ist kein sicherer Raum, kein Ort, in dem man hineingehen kann, um eine schwer fassbare Ablenkung zu finden. Wahnsinn brennt. Er brennt in einem Spektrum – von innen und außen, er verbrennt manchmal alles in ihm und um ihn herum und zerbröckelt die Möglichkeit von Sicherheit und Verständnis. Aber inmitten von Rauch und Flammen erzeugt Feuer auch Licht; und gibt uns in der Dunkelheit die Möglichkeit, durch die Dicke der Finsternis zu sehen.
Wie Antonin Artaud in Van Gogh, Der Selbstmörder Durch die Gesellschaft schrieb, wurden allzu oft diejenigen mit überlegener Klarheit und Leuchtkraft, mit der Gabe besonderer Fähigkeiten und Spiritualität für verrückt erklärt, weil sie aus gesellschaftlichen Normen ausbrachen. Um eine Partitur von Aussagen und einen Chor verschiedener Stimmen zu komponieren, denken wir über verschiedene Verläufe nach, wie zum Beispiel: über die Konstruktion von Wahnsinn und über Wahnsinn im Kontext von Normen und Normalisierung; über die Verflechtungen zwischen Wahnsinn, Kolonialismus und Kolonialität sowie über die Beziehung von Hygiene und der Politik der Segregation; über Wahnsinn als Instrument des Widerstands, der Flucht und der Verweigerung (wie beispielweise Rebellion, Hysterie, Tarantismus und andere „störende“ Verhaltensweisen, die mit medizinischen Formulierungen katalogisiert und als Krankheiten behandelt werden); und über die Macht von generationenübergreifenden Geschichten und Gemeinschaften bei der Formulierung von Heilmethoden.
In der Ausstellung bei SAVVYContemporary beginnen wir mit Immy Mali und den phantasievollen Kräften und Schmerzen der Kindheit – ein Klangtunnel führt uns über polyglotte Geschichten, Kinderreime und religiöse Lieder aus ihrer Jugend, beeinflusst von den traumatischen Verstrickungen mit der postkolonialen Landschaft Ugandas: Eine Höhle, in der uns entfernte Stimmen aus dem Inneren verwirren oder an die Hand nehmen.
Darauf folgt eine Intervention von SAVVY Contemporarys Produktionsteam, das Sie darum bittet, überflüssigen Besitz materieller und spiritueller Art vor dem Eintritt in die Ausstellung zurückzulassen. An einer speziell angefertigten Konstruktion aus vom Ausstellungsaufbau übriggebliebenen Materialien sind Sie eingeladen, jegliche geistige und körperliche Schwere zurückzulassen, seien es Mäntel oder Regenschirme, Frustrationen oder Fehlschläge. Adjani Okpu-Egbe erforscht den kathartischen Raum der Malerei als eine Form der Heilung, wobei er vorschlägt, die Grabsteine der Geschichte und Aktivismus neu zu bewerten und die Labels von (Un)Zurechnungsfähigkeit neu anzuordnen. M'barek Bouhchichi’s Installationsansammlung von mehreren kleinen Köpfen, die von Hand aus der gleichen Form geschaffen wurden, weisen Gesichter ohne spezifische Merkmale auf. Die Arbeit, die einen Horizont gestaltet, der ebenso greifbar wie schwer erreichbar ist, wurde von den Worten eines Töpfers inspiriert, den der Künstler in Tunesien traf und der zu ihm sagte: „Wir wurden alle aus Erde erschaffen.“ Ulf Aminde zeigt seine Zusammenarbeit mit der Künstlergruppe Wilderers von der Stiftung Diakonie Himmelsthür in Hildesheim, die über Kreativität und Kooperation nachdenkt und hinterfragt, wie Gruppendynamiken und Identität entstehen. John Akomfrah erzählt von den Kämpfen der Jazz-Legende Buddy Bolden mit Schizophrenie, Psychiatrieaufenthalten sowie mit der Gewalt rassistischer Staatsmächte, Menschen in prekären Positionen verschwinden zu lassen. Nathalie Mazeas zeigt die architektonischen Räume und Unterkünfte der Obdachlosen in Paris und konfrontiert uns mit der Fähigkeit zur Widerstandsfähigkeit in Krisenfällen. Lavar Munroe problematisiert in seinen Portraitgemälden den Begriff des Spektakels, und untersucht die Begriffe von Familie, nicht-weißen, kranken Körpern, Menschenzoos sowie das Vorführen von geistigen und körperlichen Herausforderungen als Unterhaltungsmittel. In der Arbeit von Teresa Margolles begegnen wir dem Schatten, dem dunklen Raum der Finsternis, der hier das Problem der systemischen Gewalt gegen Frauen in Bolivien und auf der ganzen Welt aufwirft. Für die Künstlerin stellt der dunkle Schatten auch eine Membran des Schutzes und der Intimität dar. Alessandra Eramos Klangarbeit über die Freiheit, die sich in der weiblichen Stimme widersetzt, spürt der wilden, bestialischen, ungeschulten und verletzlichen Stimme der inneren Erregung und rituellen Heilung anhand der Geschichte der Vogelspinne und der ihr eingeschriebenen, mythischen Erinnerung in ihrer Herkunftsregion Süditaliens nach. Larisa Crunțeanu kombiniert Realität und Fiktion, um die Emotionen von Frauen anzusprechen, die in der Vergangenheit ignoriert oder als körperliche Krankheiten behandelt wurden, im Hinblick auf soziale Etikette, öffentlichen Raum, Mutterschaft, Arbeit und Gerechtigkeit. Virginia Chihotas weitsichtiges Vertrauen in ihre eigene Intuition führt uns die Kapazität des emotionalen Impulses von Weiblichkeit vor Augen. Beatriz Santiago Muñoz beschäftigt sich mit den Anti-Tagebüchern des puertoricanischen Schriftstellers und Aktivisten Elizam Escobar, die er während seiner 19-jährigen Haft in US-Gefängnissen wegen des Vergehens der aufrührerischen Verschwörung geschrieben hat: dabei beweist er eine extreme und manchmal schmerzhafte Aufmerksamkeit für mentale und sensorische Prozesse. Yassine Balbzioui öffnet eine Tür zur Exzentrik als Zutritt in eine reichere Welt, wobei er Wahnsinn als absolute Freiheit der Schöpfung untersucht. Frederick W. Hickling präsentiert ein Archiv mit fotografischen Materialien und Dokumenten zu seinen Aktivitäten und Experimenten mit Deinstitutionalisierung in den 1970er Jahren in Jamaika: die MADnificent Irations, die aus der psychohistoriographischen Kulturtherapie, einer neuen Ära in der Weltpsychiatrie, stammen. Pélagie Gbaguidi untersucht den Wahnsinn des Gesellschaftlichen und reflektiert ihre Teilnahme an den Kapiteln von Ultrasanity in Venedig und in Lubumbashi, wo sie Seismogramme von geografischen Schmerzen sichtbar gemacht hat: zunächst auf der Insel San Servolo, auf der in der Vergangenheit ein psychiatrisches Krankenhaus untergebracht war, und in der Demokratischen Republik Kongo, wo sie mit Arbeiterinnen von Kohlebergwerken in Kipush zusammen arbeitete und Masken zum Schutz vor Umweltverschmutzung entwickelte. Lukas Hofmann untersucht die Idee der Haut als durchlässige Grenze, die darauf abzielt, Wunden zu öffnen und zu schließen, die durch den gegenwärtigen Zustand verursacht werden, was sowohl Unruhe als auch Erleichterung verursacht.
In der ifa Galerie betrachtet Eva Kotatkova Kinderkleidung eingehend, um deren abgenutzten Stellen sichtbar zu machen, und bittet uns, die Sprache der Erinnerung in ihren Löchern und Tränen zu bedenken. Jaswant Guzder, eine Therapeutin, die Zeichnungen als Filter zwischen ihren Patient*innen und sich selbst verwendet, untergräbt die kanonische Trope der "Outsider"-Künstlerin: ihre visuellen Arbeiten sind eine Erweiterung ihrer therapeutischen Abenteuer in der kollektiven Dekolonisierung. Virginia Chihota legt die Spannungen persönlicher Erfahrungen offen und stürzt uns in die Tiefe, um Angst, Aufruhr und die darin enthaltenen Heilmittel zu erforschen. Leo Asemota präsentiert eine Klang-Playlist zusammen mit Archivobjekten und Fundstücken, die Mikrokosmen des Wahnsinns betrachten. Tracey Rose strömt mit verschiedenen nicht klassifizierbaren und marginalen Charakteren in einer karnevalesken Subversion zusammen, die das Sonderbare, das Fremde und das Außerirdische in den Vordergrund stellt.
Künstlerischer Leiter Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
Kurator*innen Elena Agudio, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Kelly Krugman
Team Lynhan Balatbat-Helbock, Abhishek Nilamber, Lili Somogyi
MANAGEMENT Lema Sikod, Jörg-Peter Schulze
KOMMUNIKATION Anna Jäger
GraphikDesign Elsa Westreicher
PRODUkTION Abhishek Nilamber, Antonio Mendes
TECH Bert Günther
ART HANDLING Wilson Mungai, Kimani Joseph, Tibor Horvath, Bogdan Bălan
Licht Marold Langer-Philippsen
ULTRASANITY. ON MADNESS, SANITATION, ANTIPSYCHIATRY AND RESISTANCE ist ein mehrteiliges Forschungs-, Performance und Ausstellungsprojekt von SAVVY Contemporary in Kollaboration mit der ifa Gallerie Berlin, der Association of Neuroesthetics (AoN_Platform for Art and Neuroscience), Picha Lubumbashi und des Gnaoua Festival. Das Projekt wird im TURN Fond der Kulturstiftung des Bundes und von der Foundation of Arts Initiative gefördert. Lukas Hofmanns Arbeit wurde von der Jindrich Chalupecky Society in Auftrag gegeben, und vom Czech-German Fund for the Future sowie dem Czech Centre Berlin gefördert. Alessandra Eramo’s Arbeit wurde von Deutschlandfunk Kultur, Klangkunst, in Auftrag gegeben und wird 2020 gesendet werden.