Sudnozavod

Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill
Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill
Was ist akustischer Antifaschismus? 

Für ILYICH liegt die Ahnung einer Antwort in einer riesigen, verfallenen Werft in Cherson, die im Schatten der Geschichte eine bedeutende Rolle spielte. Die Werft im Dnepr-Delta im Süden der Ukraine war einst die größte der UdSSR. 1974 wurde dort während der indisch-sowjetischen Partnerschaft das Frachtschiff Vishwa Asha (dt. „Universelle Hoffnung“) hergestellt. Jahrzehnte später wurde die Vishwa Asha ausgemustert, oder sie ist verloren gegangen und nun ein Geisterschiff, das durch die Bruchstücke von Kriegsgeschichten treibt.

Sudnozavod (ukrainisch für „Werft“) ist der Titel einer neuen Videoarbeit und eines neuen Albums von ILYICH, das auf der Performance After Hope aufbaut, die in den Sophiensælen in Berlin uraufgeführt wurde. Sowohl das Album als auch das Video entstanden aus dem Prozess der Entwicklung dieser Performance, wobei die Kompositionen als Teil davon entwickelt wurden. Die Ausstellung bei SAVVY Contemporary fällt mit der digitalen und Vinyl-Veröffentlichung des Albums Sudnozavod zusammen.

Das Video Sudnozavod baut auf performativen Gesten, gesprochenen Worten und konzertartigen Klangelementen von After Hope auf und untersucht Stück für Stück die Prozesse, durch die Hoffnung entsteht, und übersetzt diese in eine filmische Form. Das Video entstand in Zusammenarbeit mit der visuellen Gebärdenperformerin Rita Mazza und verweist auf vielfältige Arten des Zuhörens, die nicht an das Gehör gebunden sind.

Das Album ist ein künstlerisches Fabulieren, das sich aus gelebten Erfahrungen entwickelt und am Sound der 1970er und 80er Jahre der Ukraine orientiert, also Jazz Fusion, Spoken Word, Pop, Feldaufnahmen, elektronische Musik und cineastische Klanglandschaften umfasst. In dieser Zeit wurden Alben wie Portrait in Jazz von Bill Evans oder Birds of Fire vom Mahavishnu Orchestra in die Ukraine geschmuggelt und auf ausrangierte Röntgenbilder, sogenannte „Knochen“, kopiert. Diese Klangrelikte bildeten ein Untergrundarchiv verbotener Klänge. In einem Kontext, in dem unterdominantische Jazzakkorde politisch verdächtig waren, wurde sogar sanfte Musik zu einer Form des Widerstands. Nach dem Zerfall der UdSSR kamen neue Klangströmungen auf: Künstler:innen wie Theo Parrish, Tricky, Laraaji und Strömungen wie Britpop. Musik konnte plötzlich frei über Bootlegs und das Radio zirkulueren und mit ihren Klängen weckte sie die Hoffnung auf Unabhängigkeit und Offenheit. Der Umstand, dass es kaum einen kulturellen Kontext für diese zuvor unbekannten Klänge und Musikstile gab, bot die Möglichkeit, ihre Ursprünge zurückzuverfolgen und die Gegenwart anders klingen zu lassen. Das Album Sudnozavod führt diese Tradition des Klangschmuggels fort und entwirft eine andere Welt inmitten der Ruinen der Gegenwart.

 
Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill
Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill
Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill
Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill
Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill
Performance "After Hope" von Ilyich in den Sophiensælen im Frühjahr 2025 | Videostill

Die Arbeit reagiet auf die globale Faschisierung, insbesondere im Kontext der Invasion und Besetzung der Ukraine durch Russland, einem faschistischen Regime, das vorgibt, eine "antifaschistische Operation" durchzuführen. Auch wenn Sudnozavod in der spezifischen Situation der Ukraine verwurzelt ist, wendet es seinen Radar nach außen, um dorthin zu lauschen, und solidarisiert sich mit anderen Kämpfen gegen Militarismus, Authoritarismus und kolonialer Gewalt auf der ganzen Welt.

Aufgebommen während gleichzeitig mehrere Kriege und Genozide wüteten – von Palästina bis Sudan, Congo und darüber hinaus –, hört Sudnozavod ohne ethische Gewissheit in Krisen hinein. Das Album fragt vielmehr: Welche Ver–Antwortung haben Künstler:innen in Zeiten globaler Verwerfungen? Welche Arten des Zuhörens könnten Hoffnung aufrechterhalten, Widerstand unterstützen und eine andere Form des Seins in der Welt vorstellen? Textuell und klanglich umfassen die Werke in der Ausstellung die Transmigration, eine nichtlineare Zeitlichkeit, in der Reinkarnation zu einer Möglichkeit wird, mit Eigeninitiative durch Geburt und Tod zu gehen. Sie verweben musikalische Harmonie, Kosmologie und Feminismus, um heroische Konstrukte zugunsten von Zuhören, Fürsorge und Erneuerung abzulehnen. 

Das Album ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit Musiker:innen und Künstler:innen verschiedener Generationen und Regionen: Der begnadete Saxophonist Andrii Barmalii aus Kiew (derzeit zum Militärdienst eingezogen) verleiht dem cineastischen Opener „Stapel“ kosmische Klänge; George Lewis Jr., alias Twin Shadow, bereichert „Don’t Be Afraid“, einen Aufruf zu Resilienz ohne Angst, mit üppigem Indie-Pop; „Plavni“, das an den sanften Widerstand der Ukraine in den 70er- und 80er-Jahren erinnert, wurde gemeinsam mit dem legendären ukrainischen Jazz-Schlagzeuger Valery Volkov, dem Pianisten Yuri Shepeta und der ungarischen Flötistin Fanni Zahár aufgenommen. Die legendäre Künstlerin und Schauspielerin Susanne Sachsse verleiht den „Körnchen Hoffnung“ mit radikaler Präsenz ihre Stimme, während Olivia Lucy Phillip, bekannt aus den Broadway-Srücken Frozen und The Book of Mormon, „Endless People“, der Lead-Single des Albums, Wärme verleiht. 

Das Projekt wird auf ILYICHS Independent-Label afterlife records veröffentlicht.

Anton Kats auch bekannt als ILYICH, ist Musiker, Klangkünstler und Pädagoge aus Cherson in der Ukraine und derzeit Stipendiat im Berliner Programm Künstlerische Forschung. Seine Arbeit umfasst Sound, Performance, Film und Radio und ist geprägt von Fragen des Zuhörens, der Vertreibung und des akustischen Antifaschismus. Unter seinem zweiten Vornamen ILYICH, der während des Asylverfahrens in Deutschland Anfang der 2000er Jahre verschwand, ist er musikalisch in Clubs, Theatern und Ausstellungsräumen unterwegs. Seine Projekte wurden unter anderem auf der documenta14, dem Roskilde Festival, Sonic Acts, der Tate Modern, den Sophiensælen und Serpentine Galleries präsentiert. Auf Refuge Worldwide präsentiert ILYICH die Reihe „Listening Hymns”, er ist darüber hinaus außerordentlicher Professor für Klang- und Hörpraktiken an der Oslo National Academy of the Arts.