RAUPE-
NIMMERSATTISMUS.
DIE WOHLSTANDS-GESELLSCHAFT ALS KONSUMIERTE GESELLSCHAFT ODER
DER MYTHOS VON ENDLOSER PRODUKTION UND ENDLOSEM KONSUM 

Nachdem wir gerade in einen neuen Ort – eine ehemalige Spielhalle – umgezogen sind, der uns weiter dazu drängt, über Prekarität nachzudenken und einzusehen, dass wir oft Chips in einem größeren Glücksspielsystem sind, hinterfragt das erste Projekt in unserem neuen Zuhause das Potenzial der Risiken und Realitäten, die damit verbunden sind, Trickster zu sein und als solche zu überleben. Um dem endlosen Konsum unserer Gesellschaften und dem Wohlstand, den viele auf Kosten der Armut anderer wahren können, entgegenzutreten, stellen wir als Ergebnis unseres gemeinsamen Forschens, Ringens und Diskutierens eine Gruppenausstellung aus. Die Schau entfaltet sich als eine chorale Befragung, die strukturelle Ungleichheiten herausfordert und gleichzeitig Positionen der Verletzlichkeit vertritt. 

Bei SAVVY Contemporary werden Ausstellungspraktiken stets als Räume von Forschung sowie der Produktion, des Austauschs und der Verbreitung von Wissen betrachet sowie als Räume, in denen bestimmte gesellschaftliche Normen in Frage gestellt werden können. Die neunwöchige Ausstellung zeigt Arbeiten von 18 internationalen Künstler*innen und Aktivist*inneen und materialisiert die Ideen (von offenen Fragen bis hin zu Vorschlägen), die aus der kollektiven Forschung und den internen und öffentlichen Online-Diskussionen hervorgegangen sind, die das Projekt in den vergangenen Monaten – vor allem in den Monaten des Lockdowns – belebt haben. Es beginnt und endet mit einem INVOCATIONS Performance-Programm und wird von einer Reihe von Workshops und Seminaren mit  jungen Schüler*innen und Schulen sowie mit anderen Gemeinschaften begleitet. Eine Publikation, die online und in Druckform erscheinen wird, hält die kollektive Untersuchung fest und weitet die Überlegungen aus. Übertragen auf Klangwellen – auf unserer Radioplattform SAVVYZΛΛR – werden Argumentationen, Gedanken und die mit dem Projekt verknüpften Praktiken widerhallen und erweitert.

Städte, Räume im Allgemeinen, bieten ihren Bewohner*innen und Besucher*innen Gedächtnisstützen, die helfen, sich an sie zu erinnern und sich in ihnen zurechtzufinden. Es können bemerkenswerte Gebäude wie Kirchen oder Wolkenkratzer bis hin zu Denkmälern, herausragende Skulpturen und viele andere eindrückliche Bauwerke sein. Abgesehen von den offensichtlichen Sehenswürdigkeiten wie die Gedächtniskirche oder der Fernsehturm am Alexanderplatz haben die Menschen, die Berlin in den letzten Jahren besucht haben, und ebenso die Bewohner*innen der Stadt, ein unwahrscheinliches Merkmal wahrgenommen, das sich in ihre Erinnerung eingeprägt: es ist das Bild von jungen und alten Menschen mit einem Sack, der über der Schulter hängt, und einer Taschenlampe in der einen Hand während die andere tief in den Mülleimern der Stadt nach Essen, Getränken oder meist leeren Pfandflaschen gräbt. Rentner*innen, Student*innen, jung und alt, Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, deren Haupteinkommen aus den Pfandflaschen besteht, die sie täglich aufsammeln, deren hauptsächliche Verpflegung in den Resten besteht, die sie im Müll finden, deren Hauptberuf Betteln ist und deren Rückzugsort in der Nacht die Straßen Berlins sind.

Das Projekt RAUPENIMMERSATTISMUS [1]setzt sich mit der Frage auseinander, was Wohlstand, Wachstum und Mangel für Gesellschaften bedeutet haben, derzeit bedeuten und bedeuten werden. Dabei problematisiert es den Mythos des endlosen Konsums sowie unsere Wohlstandskulturen, insbesondere im Kontext von Berlin und Deutschland. Wir befassen uns mit den Paradoxien eines Raumes wie Deutschland und anderen "starken Volkswirtschaften", deren Stärke in den meisten Fällen von der Schwäche anderer abhängt. Was wir seit Beginn des Projekts – vor einem Jahr – verstehen wollten, ist die plötzliche Möglichkeit eines sprunghaften Wandels, die Gewalt, die in den von uns so prekär bewohnten Strukturen eingebettet ist, und die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten einer nachhaltigen Zukunft.

Unter dem S-Bahnhof Wedding befindet sich, gegenüber von SAVVYContemporary, eine Mauer, an der die Ausstellung mit Ideogramme de l'Espoire von Mansour Ciss Kanakassy beginnt. Im Siebdruck präsentiert er politische Plakate, die für eine neu imaginierte, panafrikanische Währung werben, die die finanziellen Verstrickungen des Neokolonialismus ebenso enthüllt wie sie neue Bilder für eine mögliche Zukunft vorschlägt.

Im Inneren unserer Räume werden wir von Sol Caleros Arbeit Pica Pica begrüßt, einer vielschichtigen Installation, die sich auf eine venezolanische Legende und einen Ort geschehener Wunder bezieht. Die Installation ist ein Moment des Omen, der Kontemplation darüber, wie Sehnsüchte Gestalt annehmen können. Phil Collins' Hörkabine stammt aus einer Zusammenarbeit mit Gästen der GULLIVER Überlebensstation für Obdachlose (Köln), wo eine Telefonzelle mit kostenloser Leitung installiert wurde, die für unbegrenzte Orts- und Auslandsgespräche zur Verfügung stand, wobei vereinbart wurde, dass die Gespräche aufgezeichnet und anonymisiert werden: Das ausgewählte Material der Songs, die als Antwort auf Vinyl in den Kabinen entstehen, stammt von einer Gruppe internationaler Musiker*innen. Killing us Softly ist eine Arbeit von Krishan Rajapakshe, die aus Bildern und Schaufensterpuppen besteht, die auf die Notlage von rund 6.000 Fabrikarbeiter*innen in Kambodscha verweisen, die 2014 protestierten, indem sie täglich ihre einstündige Pause nutzten, um von westlichen Marken wie C&A und H&M einen Mindestlohn von 177€/Monat zu fordern.

Laylah Amatullah Barrayn präsentiert eine Auswahl an Porträts, aufgenommen in New York und Minneapolis, die die gelebten Erfahrungen von Schwarzen Amerikaner*innen während der doppelten Krise aus aktueller Covid-19-Pandemie und gleichzeitigen Aufständen gegen systemische Ungerechtigkeit und Rassismus dokumentieren. Nasan Tur's Variationen von Kapital beauftragte einen Informatiker mit der Erstellung einer  Formel, die es dem Computer ermöglichte, alle möglichen Schreibvarianten des Wortes "Kapital" zu generieren und mehr als 41.000 mögliche Variationen zu berechnen. Nasan übertrug die Variationen des Wortes mit einem Pinsel auf handgeschöpftes Papier. Die Ausstellung zeigt 100 von derzeit 800 dieser handgeschriebenen Unikate. Unsere Strukturen der Pandemie-Präkarität finden sich in Minerva Cuevas' Film El Pobre, El Rico y El Mosquito wieder. Darin liest ein kleines Kind eine poetische Fabel des spanischen sozialistischen Schriftstellers Tomás Meabe, während eine Mücke über ihm schwebt: Es wird von einem gefühllosen reichen Mann erzählt, der glaubt, mit den armen Mann, der ihm gegenüber wohnt, nichts gemein zu haben; am Ende sterben beide an demselben Virus, den eine Mücke in sich trug.

Sarah Entwistle entwirrt, verwüstet und problematisiert die Archive ihres verstorbenen Großvaters. Er war ein Architekt, dessen Berufspraxis zutiefst mit der Darstellung des nackten weiblichen Körpers verschmolzen war. Sarah Entwistle arbeitet schon seit langem mit der marokkanischen Weberin Kebira Aglou; sie extrahiert und vergrößert Narben und Spuren des Prozesses ihres Großvaters, um seine Architektur aus einer Perspektive der Fürsorge, des Fragens und der feministischen Perspektive neu zu schreiben. Anton Kats' Wostok 7 ist eine künstlerische Studie des Wostok-Programms der sowjetischen Raumfahrt. In dieser halbfiktionalen Erzählung über die Kolonisierung des Weltraums dienen Klang und Zuhören als dynamische Methoden der Selbstreflexion, der Politik und der Prozesse um die Erforschung des Innen- und Außenraums, sowie der Kritik an zeitgenössischen kolonialen Kräften der marginalisierenden politischen Segregation. Die Arbeit wird von dem Raumfahrer ILYICH durch eine Reihe von Performances und Performance-Vorträgen aktiviert, die das de-kolonиale Potential des Zuhörens erforschen (folgen sie dem И in der Ausstellung). Yasmin Bassirs Ein Werk Ohne Ende besteht aus handgefertigten Tonobjekten, die sich wiederholende, aber dennoch unterschiedliche, lebenslange Entwicklungen und alltägliche Akte des Kreierens darstellen: Sie integriert sie manchmal sichtbar in ausgewählte Landschaften und lässt sie zurück oder vergräbt sie, wo sie sich nach einiger Zeit wieder in der Natur aufzulösen; sie erinnert dadurch an die Art und Weise, wie sich alltägliche Arbeit, Produktion und Natur überschneiden oder auseinander bewegen. Jean David Nkot schuf ein Gemälde für SAVVY Contemporary, das eine Wanderarbeiterin mit einer Schaufel in der Hand vor einem kartografischen Hintergrund in den Mittelpunkt stellt – ein Nachdenken über Arbeitskämpfe und Widerstände.

Mittels Tischdecken blickt Samira Hodaei in die schmerzliche Geschichte der iranischen Verbindungen zum Ölgeld, das die soziale Gerechtigkeit im Land nicht gefördert hat: Als Mittel des Widerstands und der Suche nach Gerechtigkeit arbeitet sie mit dem Material, das die friedlichen iranischen Demonstrant*innen einsetzten, als sie leere Tischtücher auf die Straßen legten, um darauf hinzuweisen, dass sie ihre Familien nicht ernähren können und unter welchen schlechten wirtschaftlichen Bedingungen die Arbeiter*innen leben. Dies schlägt eine Brücke zu der Serie I Have to Feed Myself, My Family and My Country... von Hit Man Gurung vom Kollektiv ArTree Nepal. Seine Fotoreihe HAPPY NEPAL !!! PROSPEROUS NEPAL !!!! befasst sich mit Arbeitsmigration, einem Phänomen, das in südasiatischen Ländern wie Nepal weit verbreitet ist, und denkt über die sich rasch verändernde sozio-politische und sozio-ökonomische Landschaft Nepals nach.

Im Treppenhaus, das in den Keller führt, hängt über uns Papel Soberano von Daniela Medina Poch & Juan Pablo García Sossa – als Ort des Mitgefühls und der Unterstützung. Die Arbeit untersucht die Bedeutungen von Papieren, offiziellen Papieren: sie macht die Härten der humanitären Krise Venezuelas greifbar und fühlbar, indem sie die Aufmerksamkeit auf die instabile venezolanische Währung und die Migrationswelle des Landes lenkt, die Generationen mit irregulärem Status und Kinder ohne Papiere hervorgebracht hat. Im Untergeschoss werden fünf langsame und poetische Filme von Cinthia Marcelle gezeigt, die sich jeweils mit dem Mythos der Überproduktion und ihrer Industrien, der Machtausübung durch das Automobil und ihrer Beziehung zu Arbeit und Konsum beschäftigen. LAGOM: Breaking Bread with the Self Righteous (LAGOM: Brot brechen mit den Selbstgerechten) ist ein Film von Lhola Amira, der seinen Titel von dem Ausdruck "laah'gom", dem schwedischen Ethos von "nicht zu viel, nicht zu wenig – gerade die angemessene Menge" ableitet; es ist ein fortlaufendes Drama, das verschiedene Überlegungen zu Blick und Perspektive sowie zur Beziehung von Geschichte, Erinnerung, politischen Geographie und materiellen Kultur sowie die Spuren von Kolonialismus und Sklaverei offenbart. Fallon Mayanjas Klangstück, das aus einer Performance stammt, durchquert die nahe gelegene Treppe mit Schwarzen Archivtexturen, Techno-Poetiken und Geschichten von Heilung inmitten belasteter Orte und wiedergewonnener Erinnerungen.

Während in den 1930er Jahren die Wirtschaftskrise (die so genannte Große Depression) einen fruchtbaren Boden für den Aufstieg faschistischer Regierungen in Europa bereitete, haben im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts (während der so genannten Großen Rezession und der Finanzkrise 2008-9) die wirtschaftlichen Kämpfe um neoliberale Souveränität den Aufstieg der extremen Rechten begünstigt. Die Austeritätspolitik hat das Fundament für einen diskriminierenden Sozialdarwinismus und nationale Wirtschaftspolitik (à la "America First", "Prima Gli Italiani" usw.) gelegt. Und auch hier wurde ein Primat der wirtschaftlichen Unterstützung an nationalistische Logiken gekoppelt, die Wachstum und Nation miteinander verbinden. Interessanterweise kamen die Reihen der europäischen extremen Rechten nicht mehr aus der Klasse der Unterprivilegierten und Marginalisierten, sondern auch und vor allem aus der Mittelschicht, der Gruppe, die von den Folgen der Finanzkrise am stärksten bedroht war. Die Folgen dieses globalen finanziellen Zusammenbruchs wirken sich immer noch auf unsere Gesellschaften aus, in denen die Extreme von Reichtum und Armut Plutokratie und "oligarchische Herrschaft" durch gefährliche Formen des Populismus angeheizt haben.

Wir wissen noch nicht, wohin uns diese Krise führen wird, aber an diesem historischen und beispiellosen Wendepunkt ist die Auseinandersetzung mit diesen Überlegungen nicht nur relevant, sondern grundlegend notwendig.

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RAUPENIMMERSATTISM takes its cue from the The Very Hungry Caterpillar (In German: Die kleine Raupe Nimmersatt), a children's picture book designed, illustrated, and written by Eric Carle, first published by the World Publishing Company in 1969.