THE LONG TERM YOU CANNOT AFFORD.
Zur Verbreitung
des Toxischen
Recherche–, Performance– und Ausstellungsprojekt
Eröffnung 18.10.2019 19:00
Ausstellung 19.10.– 01.12.2019 Do–So 14:00–19:00
Mit Boris Anje, Julieta Aranda, Christian Danielewitz und Anu Ramdas, Anne Duk Hee Jordan und Pauline Doutreluingne, Assaf Gruber, He Xiangyu, Nona Inescu, Anja Kanngieser, Jessika Khazrik, Candice Lin, Natascha Sadr Haghighian und Ashkan Sepahvand, Neda Saeedi, Zina Saro-Wiwa, Jonas Staal in Zusammenarbeit mit Jonas Stuck, Stephan Thierbach und Nada Tshibuabua
Nichts davon passiert hier. Es passiert weit entfernt, woanders."
"Es könnte aber ebenso gut hier passieren," sagt Iris. "Ich wüsste gerne, was ‘hier’ überhaupt bedeutet. Überall ist ein ‘hier’, oder etwa nicht?
Niemand von uns, ob Pflanze, Kriechtier oder Mensch, bleibt vom Toxischen unberührt. Ob wissentlich oder nicht, ob in direktem Kontakt oder durch verdünnte Aufnahme weiter flussabwärts, die Verbreitung von Giftstoffen auf diesem Planeten ist derart allgegenwärtig, dass es eine Konstante des Lebens ist, mit Toxizität zu leben. [1]
Die giftigen Konflikte, die den ausbeuterischen und rücksichtslosen Prozessen von Rohstoffabbau, Produktion und Entsorgung innewohnen, befinden sich im Zentrum einer sich wandelnden Natur der Ökosysteme, zu denen wir heute gehören – mit Millionen an Tonnen von synthetischen Materialien, Pestiziden, Schwermetallen und Chemikalien, die alljährlich freigesetzt werden und zirkulieren. Strukturelle Ungleichheiten auf globaler Ebene und Systeme der “Externalisierung” [2] erlauben es, dass einige Leben von toxischer Ausbreitung verhältnismäßig unberührt bleiben während andere, schlicht um dennoch irgendwie zu überleben, alltäglich hoher Konzentration und lebensbedrohlicher Belastung von Giftstoffen ausgesetzt sind. Das neue Zeitalter der Toxizität ist “ein Zustand, der zwar geteilt wird, aber zu ungleichen Teilen, und der uns ebenso stark trennt wie er uns verbindet.” [3]
Die Ausstellung entwirrt die kaleidoskopischen Bedeutungen des Toxischen, sowohl als Material wie auch als Metapher: In seinen Gemälden fängt Boris Anje die Essenz des überbordenden und schädlichen Materialismus einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung ein, während Nada Tshibuabua Skulpturen aus den Überbleibseln eben jener Ökonomie und des kolonialen Projekts erschafft. Durch Klang überträgt Anja Kanngieser die gelebte Erfahrung von toxischer Schädlichkeit, während Julieta Aranda und Candice Lin die Ängste, Unklarheiten und Bedrohungen betrachten, die in deren Schatten gedeihen. Anu Ramdas und Christian Danielewitz halten kaum wahrnehmbare und schädliche Strahlung als Abdrücke und Verzeichnungen auf photographischem Film fest, und He Xiangyu gibt dem Gefühl, einen allgegenwärtigen Konsumartikel zu trinken, eine materielle Form. Anne Duk Hee Jordan und Pauline Doutreluingne illustrieren die verschiedenen Zusammenhänge, Auswirkungen und Effekte des Einflusses von chemischen Substanzen auf menschliche und nichtmenschliche Akteur*innen, während Nona Inescu eine Ansammlung aus Steinkonkretionen erstellt, die Organen ähneln – eine Materialverdauung im Laufe der Zeit, die offenlegen, wie grundlegend Leben von dessen unmittelbarer Umgebung mit erschaffen wird. Jonas Staal und Stephan Thierbach setzen sich damit auseinander, was es bedeutet, sich um ein giftiges Erbe zu kümmern, nicht nur für Menschen, sondern auch für unsere mehr als menschlichen Begleiter und für den Erdboden, der uns (er)trägt. Jessika Khazrik thematisiert die globale Müllwirtschaft mit besonderem Augenmerk auf die Beziehung zwischen Italien und Libanon, während sich Assaf Gruber auf die Toxizität des kolonialen Projekts und damit verbundener Unternehmungen ewiger museologischer Präservierung fokussiert. Durch einen filmischen Blick, der Überwachungssysteme zitiert, die sowohl mit Ölinteressen als auch mit unsichtbaren spirituellen Kräften zu tun haben können, versetzt Zina Saro-Wiwa Tanzperformances in die Überbleibsel der Infrastrukturen, die die Ölindustrie in Ogoniland hinterlassen hat. Natascha Sadr Haghighian und Ashkan Sepahvand verkomplizieren gegenwärtige und zukünftige Beziehungen zwischen Menschen und deren ökonomischen Geschichte, nichtmenschlichen Lebensformen und der Umwelt, während Neda Saeedi utopische und dystopische Zukünfte in Kristallkugeln einschließt.
Der Fokus unserer Bemühungen liegt weder darauf, jedes Detail aufzudröseln und in vernünftige Kategorien einzusortieren noch zu dämonisieren, Schuldzuweisungen zu machen oder ein unverdauliches Gefühl von paralysierender Schuld am Zustand der Welt zu katalysieren. Vielmehr liegt uns daran, einen Raum für künstlerische und kritische Register zu schaffen, der es uns ermöglicht, innezuhalten, um toxische Präsenz und Textur wahrzunehmen. Er ermöglicht darüber hinaus, die immer neuen Opfer zur Kenntnis zu nehmen und zu betrauern, den Bewegungen der toxischen Schatten zuzuhören. Wir hoffen, dadurch, die Empfindungen weg von paranoider Beherrschung und Angst hin zu einem nachdenklichen und nuancierten Ausblick zu verschieben und dabei den wichtigen Akt der Wahrnehmung zu nähren, dass die intimsten Handlungen eng mit dem Globalen verbunden sind – denn überall ist letztendlich immer auch ein Hier.
Um die globale Verteilung des Toxischen wirklich zu erfassen – die Richtungen seiner Bewegungen, die unermessliche, von ihm hinterlassene Gewalt und die Bemühungen darum, Rechenschaft für dessen gnadenlose Zerstörungsmacht einzufordern – ist die Einsicht davon zwingend, dass die Welt so viel mehr ist, als es die westliche, kapitalistische Vorstellung zu konzipieren in der Lage ist. In einer Zeit, die besonders von Vereinfachungen und einem Verlangen nach Reinheit geplagt wird, ist es wichtig, an den Kampf gegen die brutalen Machenschaften, die zu dem aktuellen Stand der Dinge geführt haben, zu erinnern und alles zu tun, um den abscheulichen Zuständen, die sie noch immer hervorbringen, zu entkommen: von kleinen, alltäglichen Handlungen bis hin zu spektakulären Mobilisierungen, von umgehenden Reaktionen zu strategischem und nachhaltigem Engagement. Im Kern speist sich jede Handlung aus dem Antrieb, neue politische Subjekte zu fördern, die stetig, wenn auch schmerzlich, aus der Vergangenheit in die Zukunft wachsen.
KURATORInnen Antonia Alampi, Caroline Ektander
KO-KURATORinnen Jasmina Al-Qaisi, Kamila Metwaly
Künstlerischer Leiter Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
PROJEktteam Monilola Ilupeju, António Pedro Mendes, Ola Zielińska
Kuratorische Assistenz Mahnoor Lohdi
MANAGEMENT Lema Sikod
KOMMUNIKATION Anna Jäger
GRAPHIkDESIGN Elsa Westreicher, Lili Somogyi
TECH Bert Günther
ART HANDLING Wilson Mungai, Kimani Joseph
LicHT Catalina Fernandez
Diese Ausstellung ist Teil von Toxic Commons –– einer Plattform, die Texte publiziert, öffentliche Programme organisiert und rund um das Thema der Verbreitung giftiger Stoffe und die damit verbundene ökologische Ungerechtigkeit forscht. Toxic Commons wurde gegründet von: Caroline Ektander, Antonia Alampi und SAVVY Contemporary, Simone Müller und der Forschungsgruppe "Hazardous Travels. Ghost Acres and the Global Waste Economy" des Rachel Carson Center u.a. mit Ayushi Dhawan, Maximilian Feichtner und Jonas Stuck.
Wir sind dankbar für die wertvollen kuratorischen Konversationen, die wir anlässlich dieser Ausstellung führen durften. Insbesondere gilt unser Dank:
Contour Biennales Nataša Petrešin-Bachelez und Fleur van Muiswinkel dafür, dass sie die Arbeit von Natascha Sadr Haghighian und Ashkan Sepahvand für die 9.Aufgabe der Biennale in Auftrag gegben haben, sowie wie Nora Razian und Ashkal Alwan für deren Auftrag für Candice Lins Beitrag zu Home Works 8. Beide Werke werden erstmals in Mechelen beziehungsweise in Beirut gezeigt, deren Eröffnung findet am gleichen Tag statt wie die von THE LONG TERM YOU CANNOT AFFORD und wir freuen uns, die Arbeiten gleichzeitig erstmals in Berlin zeigen zu können.
THE LONG TERM YOU CANNOT AFFORD. ON THE DISTRIBUTION OF THE TOXIC ist das dritte Kapitel unserer Langzeit–Untersuchung THE INVENTION OF SCIENCE.
Das Projekt wird vom Hauptstadtkulturfonds und der Foundation for Arts Initiatives finanziert.
Jonas Staals neue Auftragsarbeit redistribute toxicity wurde durch die Unterstützung des Mondriaan Fund ermöglicht. Abhijan Guptas Teilnahme am Invocations Programm wird vom Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan Kolkata unterstützt. Hira Nabis Teilnahme wird vom Goethe Institut Pakistan gefördert. Die Unterstützung von White Space Bejing ermöglicht He Xiangyus Teilnahme. Hulda Rós Gudnadóttirs neue Videoarbeit wurde durch eine Förderung des The Visual Arts Fund Iceland ermöglicht. Matana Roberts Performance wird vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD gefördert. Hyoung-Min Kim und Gabriel Galindez Cruz's Performance I Am Not On The Blacklist präsentiert SAVVY Contemporary gemeinsam mit Tanzfabrik Berlin im Rahmen von OPEN SPACES und wird von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert.
Visual Zitat: Ali Smith "Winter" (2017); Bild: Joint Task Force One, Operation Crossroads: the Official Pictorial Record, 1946, p 216; Design: Elsa Westreicher
RAQS Media Collective: https://www.raqsmediacollective.net/print.aspx?type=by&catid=2
Stephan Lessenich. 2015. "Die Externalisierungsgesellschaft: Ein Internalisierungsversuch", Soziologie 44:1, 22–32.
Michele Murphy. 2017. "Alterlife and Decolonial Chemical Relations". Cultural Anthropology 32(4), 497.